
In Verbindung bleiben
In Verbindung bleiben
Wenn Gemeinschaft zerbricht – Achtsamkeit und Resilienz in Zeiten sozialer Ausgrenzung
Einleitung – Der Verlust im Verlust
Manchmal stirbt nicht nur ein Mensch, sondern auch die Zugehörigkeit.
Eine Gemeinschaft, die einst trug, zieht sich plötzlich zurück.
Freund:innen, Kolleg:innen, Mitmenschen werden still, ausweichend oder spurlos.
Für marginalisierte Personen – also Menschen, die ohnehin schon weniger Halt im System erfahren – ist dieser zweite Verlust oft der schmerzlichere.
Denn er trifft mitten in der Verwundbarkeit.
Dann, wenn Nähe und Akzeptanz am dringendsten gebraucht würden,
entsteht Leere.
Eine soziale (oder auch partnerschaftliche) Eiszeit.
Die Mechanismen hinter dem Rückzug
Soziale Ausgrenzung folgt selten böser Absicht –
aber fast immer unbewusster Angst.
Die Angst, etwas „Falsches“ zu sagen.
Die Angst vor Nähe zum Schmerz.
Oder, ganz archaisch: die Angst, selbst hineingezogen zu werden in das Chaos,
das Verlust und Verzweiflung erzeugen.
Der Sozialpsychologe Henri Tajfel beschrieb das schon 1978 in seiner Social Identity Theory:
„Gruppen schützen ihre Identität, indem sie Abweichung abwehren.“
Das heißt:
Selbst in solidarischen Kreisen kippt Zugehörigkeit, wenn jemand aus dem emotionalen Raster fällt.
Wut, Trauer, Unordnung – all das sprengt die Komfortzone einer Gesellschaft,
die auf Funktionieren trainiert ist.
Philosophisch gesehen ist das, was passiert, eine Form kollektiver Abwehr.
Hannah Arendt nannte es das Bedürfnis nach „moralischer Eindeutigkeit“ –
es beruhigt, Schuld klar zu verteilen.
Doch dort, wo alles eindeutig sein soll, verliert Empathie ihren Platz.
Warum marginalisierte Personen besonders betroffen sind
Wer ohnehin am Rand steht – durch Herkunft, Identität, Behinderung, finanzielle Lage oder emotionale Sensibilität – trägt ohnehin schon ein höheres Risiko sozialer Isolation.
Fällt dann noch Trauer, Krise oder Beziehungsbruch hinzu,
verstärkt sich das Exil.
Psychologisch spricht man von kumulativer Verwundung:
Ein Schmerz reaktiviert alte Erfahrungen von Nicht-Gesehen-Werden, Ablehnung, Ausgrenzung.
Das System (Gesellschaft, Familie, Community) reagiert mit Distanz –
und vergrößert damit genau das Loch, das zu füllen wäre.
Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen (2016):
„In einer Gesellschaft der Positivität wird das Andere verdrängt, nicht integriert.“
Diese Verdrängung trifft besonders jene,
deren Existenz ohnehin als „anders“ gilt.
Was in der betroffenen Person geschieht
Isolation erzeugt einen emotionalen Schockzustand.
Trauer, Wut und Scham mischen sich.
Es kann zu impulsivem Verhalten kommen –
Aktionen, die im Nachhinein unverständlich wirken,
aber im Moment Versuch sind, Kontrolle zu spüren.
Hier greift das Prinzip der Selbstregulation:
Der Körper versucht, Überforderung abzubauen –
durch Bewegung, Handlung, manchmal durch Ausbruch.
Diese Impulse sind keine Charakterschwäche,
sondern Überlebenszeichen.
Viktor Frankl erinnerte uns:
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.
In diesem Raum liegt unsere Freiheit.“
Resilienz beginnt dort,
wo wir diesen Raum wieder wahrnehmen lernen –
mit Achtsamkeit statt Selbstverurteilung.
Achtsamkeit und Resilienz als Antwort
Resilienz ist kein Widerstandspanzer.
Sie ist die Fähigkeit, flexibel zu bleiben –
auch wenn das Herz bricht.
Für marginalisierte Menschen bedeutet das:
nicht über Härte, sondern über Bewusstheit zu heilen.
Achtsamkeit heißt hier:
Nicht jedes Schweigen persönlich nehmen.
Den Körper als Anker nutzen, wenn Gedanken kreisen.
Sich erlauben, Wut und Trauer gleichzeitig zu empfinden.
Brené Brown nennt das „braving“ – mutiges, verletzliches Dasein.
„Empathie ist kein Mitleid, sondern geteilte Menschlichkeit.“
Praktische Übungen für Selbstfürsorge & Stabilität
→ 1. Bodyscan in Bewegung
Setz dich bequem hin oder geh langsam.
Spüre Füße, Beine, Schultern, Atem.
Jedes Mal, wenn der Gedanke an andere Menschen kommt –
lenke ihn zurück in den Körper: „Ich bin hier.“
→ 2. Schlafhygiene für trauernde Körper
Regelmäßige Schlafenszeit (auch wenn Schlaf ausbleibt).
Kein Scrollen im Bett – stattdessen ein entspannender Duft, ruhige Musik, vielleicht ein Buch oder ein Hörbuch.
Halte Rituale klein: Kerze, Tee, Notizbuch.
Der Körper lernt, wieder Sicherheit zu assoziieren.
→ 3. Tagebuch des Verzeihens
Schreibe täglich einen Satz, der mit
„Ich vergebe mir, dass …“ beginnt.
Nicht, um Schuld zu löschen,
sondern um Weichheit zurückzuholen.
→ 4. Mini-Kontaktübungen
Ruf eine Person an, geh mit jemandem fünf Minuten spazieren,
begrüße bewusst einen Nachbarn.
Kleine soziale Akte reaktivieren Zugehörigkeit.
→ 5. Grenzritual
Schreib auf, wem du nicht mehr erklären musst,
wer du bist oder was, warum du (so) fühlst.
Das ist dein Schutzkreis.
Darin darfst du bleiben.
Selbstvergebung als Brücke
Der wichtigste Schritt ist,
nicht auf Erlösung durch andere zu warten.
Sondern auf Selbstvergebung hinzuarbeiten:
Ich darf falsch reagieren.
Ich darf laut, verletzt, widersprüchlich sein.
Ich darf lernen.
Selbstvergebung ist kein Freispruch,
sondern Rückkehr in die eigene Menschlichkeit.
Was Gemeinschaft neu lernen kann
Gesellschaftliche Kälte entsteht nicht durch böse Menschen,
sondern durch überforderte.
Aber Wärme lässt sich lernen –
durch Zuhören, Differenz, Aushalten.
Aleida Assmann schrieb:
„Erinnerung ist kein Besitz, sondern Beziehung.“
Vielleicht gilt das auch für Mitgefühl.
Es entsteht, wenn wir Beziehung halten –
auch dort, wo es weh tut.
Trauernde, marginalisierte, verletzte Menschen
brauchen keine Erklärungen.
Sie brauchen Begegnung.
Und vielleicht ist das die eigentliche Übung unserer Zeit:
Mensch zu bleiben, wenn Systeme versagen.
In Liebe,
Literatur & Quellen
Henri Tajfel (1978): „Social Identity Theory“
Hannah Arendt (1951): „Über das Böse“
Byung-Chul Han (2016): „Die Austreibung des Anderen“
Viktor E. Frankl (1946): „…trotzdem Ja zum Leben sagen“
Roland Kachler (2005): „Meine Trauer wird dich finden“
Brené Brown (2012): „Daring Greatly“
Aleida Assmann (2016): „Formen des Vergessens“
Angela Mohaupt - Coachin & Psychologische Beraterin
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